Leben in einer Utopie (Jg. 10, PPL)
Im Jahr 1516 veröffentlichte der Britische Philosoph Thomas Morus sein Werk „De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia“ („Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“), in dem er ein erfundenes Inselreich mit einer von den damaligen Gegebenheiten völlig unterschiedlichen Gesellschaftsstruktur beschrieb. Morus‘ Werk war so prägend, dass nachfolgend alle literarischen Werke, in denen eine erfundene, positive Gesellschaft dargestellt wurde, als „Utopien“ bezeichnet wurden.
„Es sah dort sehr perfekt aus, nahezu schon unheimlich. Quadratische Grundstücke mit jeweils 3 Bäumen und 2 Beeten. Die Leute eingekleidet mit Pelzen und Blättern, die Beete bunt gemischt mit Obst und Gemüse.“ (- Carpe Diem)
Utopien – wörtlich übersetzt „Nicht-Orte“ – gelten noch heute in vielen Kontexten als das Idealbild des Zusammenlebens. In ihnen werden Gesellschaftsvisionen beschrieben, in denen Menschen in alternativen Systemen praktisch leben – auch, wenn diese Visionen in der Realität meist nicht umsetzbar sind.
„Von jedem Menschen, dem wir begegneten, erhielten wir eine freundliche Begrüßung und ich sah zum ersten Mal eine solche freundliche Stadt, mit solchen glücklichen Bewohnern.“ (- Cocaini)
Die Frage ist nun: ist das Leben in einer Utopie wirklich so schön, wie es sich Philosophen schon seit Platons Zeit ausmalen? Oder entpuppt sich auch die schönste Utopie, die mit den reinsten Absichten geschaffen wurde, wenn man sie genauer betrachtet eher als Dystopie, ein zukunftspessimistisches Szenario, in dem sich die Gesellschaft zum Negativen entwickelt? Um diese Frage zu beantworten, entwarfen die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 10 im Projekt ihre eigenen Utopien.
„Mein erster Einblick von der Insel war sehr positiv. Die Menschen, die hier am Strand wohnen, haben mich freundlich begrüßt. Hier auf der Insel hat jeder seine eigene Nahrungsmittelversorgung, die sie vom Staat bekommen. Ich habe für die kurze Zeit einen kleinen Vorrat vom Staat geschenkt bekommen.“ (- Isla de la Justicia)
Zuerst einmal musste aber erarbeitet werden, was eine Utopie eigentlich ausmacht. So zeichnet sich Morus‘ Insel „Utopia“ beispielsweise dadurch aus, dass die Einwohner der Insel alle zusammen Ackerbau betreiben und jeder dazu noch ein weiteres Handwerk erlernt, dem er genau 6 Stunden am Tag nachgeht. Auch sind die angebauten Produkte auf den örtlichen Märkten kostenlos, denn sie gehören allen. Andererseits, und hier zeigen sich auch bei Morus erste dystopische Züge, gibt es auf Utopia Sklaverei und die Todesstrafe.
„Auf unserer Insel herrscht eine Monarchie. Alle unserer Bürger sind adelig. Bis auf die Sklaven.“ (- Magnum Opus)
Nachdem die jungen Inselgründer verstanden hatten, worauf es bei dem Vorhaben ankam, ging es dann an die Planung. Das erste Problem, vor dem die Gruppen standen, war die Suche nach einem passenden Namen für die Inselstaaten. Nach intensiver Internetrecherche und einem Crashkurs im Lateinischen waren die Namen gefunden und die neuen Staaten getauft: Carpe Diem, Cocaini, Isla de la Justicia, Magnum Opus und Upitie.
„Die Insel, wo ich bin, heißt Upitie und hat 5000 Einwohner. Die Menschen die dort leben sind sehr nett, hübsch, sehr freundlich zueinander und sehr hilfsbereit.“ (- Upitie)
Nun begannen die eigentlichen Probleme, mit denen sich jeder, der plötzlich über ein Inselreich entscheiden soll, befassen muss: Wer herrscht auf der Insel? Welche Rechte und Pflichten haben die Einwohner? Gibt es Gesetze? Gibt es Strafen? Wie wird Arbeit verteilt, die Waren, wie läuft der Handel, welchen Wert hat Geld, und, und, und…
„Die Menschen hier entschieden sich, hierhin zu ziehen, um ein erfülltes Leben zu genießen und ohne Chemikalien ihre Umwelt haltbar zu machen. Jeder baute genau das an was er brauchte, sodass niemand sagen konnte, er hätte einen wirtschaftlichen Nachteil.“ (- Carpe Diem)
All diese Fragen waren in manchen Gruppen leichter beantwortet, in anderen schwieriger. Manch eine Gruppe fand sofort ihre präferierte Staatsform, andere mussten erst einmal überlegen, welche Vor- und Nachteile zum Beispiel eine Monarchie wirklich hatte. Demokratie, so zeigte sich schnell, war den meisten zu langweilig.
„Als ich kurz vorm Schloss war, begrüßte die Königin mich und führte mich zu einer Tafel, die reichlich gedeckt war. Am Tisch saßen ihre 2 Söhne und ihre Tochter, zudem auch die Königin. Nur neben ihr war ein Platzt frei.“ (- Isla de la Justicia)
Waren die noch offenen Fragen nun geklärt und die letzten Diskussionen über die Vorzüge des Kannibalismus geführt, wurde angefangen, das Leben auf den Inseln zu dokumentieren. Um dem Leser deutlich zu machen, welche Unterschiede es zwischen den utopischen Staaten und unserer normalen Welt gibt, sollten die Texte, die die Gruppen verfassen würden, aus der Perspektive eines Außenstehenden geschrieben werden. Auch hier hielten blieben wir also nah an unserem philosophischen Vorbild Morus, denn auch in seinem Werk berichtet in der Form eines fiktiven Reiseberichts über Utopia.
„Jeder muss zur Arbeit, man darf sich aussuchen, was man machen will zwischen Ackerbau, Fischerei, und Zocken. Ich weiß, was Sie denken, nämlich dass jeder zocken genommen hat – aber 30% arbeitet im Ackerbau, 30% sind Zocker und 40% sind Fischer.“ (- Upitie)
Anders als Morus war es jedoch nicht unser Ziel, unsere Werke in einem Buch zu veröffentlichen (zumindest nicht unser primäres Ziel). Über die moderne Utopie sollte schließlich in der Form eines modernen Mediums berichtet werden: in einem Internetblog! Die einzelnen Gruppen verfassten also Blogbeiträge, die sie selbständig veröffentlichten.
„Durch die politischen Bündnisse mit den anderen Inseln werden wir mit Nahrung versorgt. Wir bezahlen Sie mit Geld und Gold sie bringen uns Nahrungsmittel. Außerdem versucht unsere Insel Magnum Opus viele politische Bündnisse mit anderen Inseln zu knüpfen, um eine starke Macht zu demonstrieren.“ (- Magnum Opus)
Und anders als bei Morus bot die Form des Internetblogs die Möglichkeit, direkt mit den Leserinnen und Lesern zu kommunizieren. Die ersten Blogbeiträge der Utopier wurden zwischen den Projekt-Freitagen fleißig von freundlichen Schülerinnen und Schülern der Oberstufe kommentiert. Die Philosophen aus EF und Q1 (sowie einige werte Mitglieder des Kollegiums) verfassten insgesamt fast 200 Kommentare, in denen Fragen zum Leben auf den einzelnen Inseln gestellt wurden.
„An jedem 6. Montag zelebrieren wir ein Fest, wo wir unsere Ernte, von der wir einen Monat leben könnten, in ein Feuer werfen. Dies bringt Glück, da wir Gott zeigen wollen, dass wir reich gesegnet sind.“ (- Carpe Diem)
Diese Kommentare bildeten die Grundlage für die weitere Projektarbeit, waren die Gruppen doch nun angehalten, die Wissbegier der Leser zu stillen. Auch halfen die Kommentare den Insulanern dabei, konkret über das alltägliche Leben auf ihren Inseln nachzudenken und den fiktiven Inseln so noch mehr Leben einzuhauchen.
„Als wir weiter gingen und etwas zu Essen besorgen wollten, fiel mir auf, dass es kein Geld gab. Ich fragte, wie hier sonst bezahlt wird. Da lachte sie und sagte, dass hier alles umsonst sei, weil jeder arbeitete.“ (- Cocaini)
Es war an dieser Stelle, an der manchen Schülerinnen und Schülern auffiel, dass das Leben auf ihrer Insel vielleicht doch nicht so perfekt war, wie sie es sich gedacht hatten. Auch unsere Utopien wiesen also schnell leicht dystopische Züge auf.
„Falls eine ausländische Hilfsorganisation unsere Sklaven entwenden möchte, werden sie festgenommen und hingerichtet; ihre Schiffe werden von der königlichen Marine vernichtet.“ (- Magnum Opus)
Das Leben auf den utopischen Inseln des 10. Jahrgangs war für die fiktiven Autoren der Reiseberichte sicherlich nicht immer einfach – aber war das nicht absehbar? Gibt es überhaupt „die perfekte Welt“, die Philosophen nun seit über 500 Jahren suchen?
„Es gibt 4 verschiedene Ränge. In dem ersten Rang lebt die Königin. In dem zweiten Rang leben die normalen Einwohner und zusätzlich die neuen Einwanderer. In dem dritten Rang sind die Menschen, die aus ihren Taten lernen sollen. Der vierte Rang ist dafür da, um die, die ihre Chance nicht genutzt haben, zu bestrafen.“ (- Isla de la Justicia)
Eine Frage, die nicht nur für die Schüler im Projekt schwierig bis gar nicht zu beantworten war. Fest stand jedenfalls, dass sich fast alle Gruppen dafür entschieden, dass ihr Charakter aus ihren Blogbeiträgen den Rest seines oder ihres Lebens auf den jeweiligen Inseln verbringen würde. Wie lange dieses Leben sein würde, oder ob die Charaktere nicht vielleicht doch als Sklaven oder als Abendessen enden würden, soll an dieser Stelle offen bleiben,
„Jeder bekommt auch einen eigenen Elektroroller; wenn der Akku leer ist, kann man diesen an einer Steckdose aufladen. Die Energie kommt komplett vom Wasser!“ (- Upitie)
Die kompletten Blogbeiträge der einzelnen Gruppen können Sie auf dem Blog der Philosophen an der Carolinenschule nachlesen. (https://carophilo.wordpress.com) Wir hoffen, dass Sie und ihr mit uns auf die Reisen nach Carpe Diem, Cocaini, Isla de la Justicia, Magnum Opus und Upitie kommt und dass Sie und ihr den Aufenthalt genießt (und bestenfalls auch überlebt).